05. November 2011
“Psychoanalytisch-pädagogische Perspektiven auf gesellschaftliche, institutionelle und individuelle Ausgrenzung”
Außenseiter sind Einzelne oder Gruppen, die den Erwartungen und Normen eines sozialen Gefüges nicht entsprechen. Sie selbst erleben dies oft als leidvoll. Für andere sind sie häufig eine Belastung, weil sie mehr oder anderes brauchen als die übrigen, weil die bewährten Konzepte des Sozialen nicht greifen und ihre Grenzen offenkundig werden.
Es gibt viele Gründe, weshalb Kinder, Jugendliche oder Erwachsene in eine Außenseiterposition geraten können. Die Ursachen können nicht isoliert betrachtet werden, da sie nicht unabhängig voneinander wirken. Es sind nicht entweder soziale oder individuelle Faktoren, die eine Rolle spielen. Vielmehr geht es stets um ein komplexes Zusammenspiel von gesellschaftlichen Bewertungen, institutionellen Rahmenbedingungen und dem Erleben und Verhalten Einzelner, wie zum Beispiel an der aktuellen Inklusionsdebatte seit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention deutlich wird.
Damit ist eine alte Frage neu gestellt: Wie können Menschen, die anders sind und die als verhaltensauffällig, lerngestört oder geistig behindert gelten, in das gesellschaftliche Leben integriert werden? Auch auf institutioneller Ebene sind Pädagogik und Soziale Arbeit beständig mit dem Thema konfrontiert. Wie ist in Kindergarten, Schule, Heim, Hort oder Wohngruppe mit jenen umzugehen, die den gesetzten Rahmen sprengen, sich nicht einfügen, nicht zu halten sind?
Die pädagogische und sozialarbeiterische Praxis erfordert Individualisierung. Das Schwierige erscheint als Problem der Einzelnen oder einer Gruppe, weil es nur dort unmittelbar bearbeitet werden kann. Damit wird die Problemlösung auf die einzelnen Pädagoginnen und Pädagogen/Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter zentriert. Sie haben dann die Aufgabe, mit den sogenannten Außenseitern tragfähige Beziehungen herstellen, um ihnen das (Über-)Leben im sozialen Gefüge zu erleichtern und sie entsprechend zu fördern.
Schon Aloys Leber, einer der Begründer der Frankfurter Psychoanalytischen Pädagogik, der im November 2011 seinen 90. Geburtstag feiern wird, hat darauf verwiesen, dass auffälliges Verhalten immer auch als Botschaft der Betroffenen zu verstehen sei, als eine Re-Inszenierung belastender oder traumatischer Erfahrungen. Diese Botschaften gilt es mit Hilfe des „szenischen Verstehens“ zu entschlüsseln, um dadurch einen „fördernden Dialog“ (Leber) anzustoßen oder um durch andere Interventionen entsprechende Antworten zu finden.
Ziel der Tagung ist es, der Frage nachzugehen, wie destruktive Ausgrenzungsmechanismen zustande kommen. Welche bewussten und unbewussten Dynamiken lösen solche Prozesse aus und wie kann ihnen aus der Sicht der heutigen psychoanalytischen Pädagogik und sozialen Arbeit entgegengewirkt werden? Das Zusammenspiel unterschiedlicher Faktoren bei der Entstehung von Marginalisierung erfordert immer dreierlei: Auf der sozialpolitischen Ebene geht es darum, sich für gesellschaftliche Veränderungsprozesse einzusetzen, auf der institutionellen Ebene darum, für tragfähige und belastbare Rahmenbedingungen zu sorgen, und auf der Ebene der pädagogischen Beziehungen darum, die bewusstseinsnahen, aber auch unbewusst-verschlüsselten Botschaften zu hören und entsprechend zu beantworten.
Programm
Moderation der Tagung:
Prof. Dr. Annelinde Eggert-Schmid Noerr
Prof. Dr. Georg Bruns
“Mit 14 Jahren galt ich als Archetyp einer Kindfrau.” Die Außenseiterrolle als Element des Selbstkonzepts
Prof. Dr. Manfred Gerspach
„… an der Szene teilhaben und doch innere Distanz dazu gewinnen“ (Aloys Leber).
Szenisches Verstehen und fördernder Dialog heute
Prof. Dr. Dieter Katzenbach
Die innere Seite von Inklusion und Exklusion.
Psychoanalytische Perspektiven auf den Umgang mit der UN-Behindertenrechtskonvention
Arbeitsgruppen
(Mensagebäude 1. OG)
AG 1 Prof. Dr. Georg Bruns
AG zum Vortrag
AG 2 Rebecca Friedmann/Silke Wolter
„Was wollen Sie mir schon beibringen…?!“ – Erfahrungen aus dem psychoanalytisch-pädagogischen Umgang mit gewalttätigen Jugendlichen mehr…
Viele der Jugendlichen Intensivstraftäter, die zu dem sozialkognitiven Einzeltraining „Denkzeit“ verurteilt werden, sind mit herkömmlichen pädagogischen Methoden kaum zu erreichen. Ihre Biografie ist meist von Ablehnungserfahrungen und Beziehungsabbrüchen gekennzeichnet, die sie immer wieder inszenieren. Im Denkzeit-Training versuchen wir pädagogisches Handeln und psychoanalytisches Verständnis in Einklang zu bringen, um so die (in der Regel nicht bewussten) Arbeitsmodelle der Jugendlichen zu verstehen und ihnen handelnd zu begegnen.
In der Arbeitsgruppe möchten wir unseren psychoanalytisch-pädagogischen Ansatz, den Rahmen des Trainings und die zugrunde liegende pädagogische Haltung beschreiben und anhand von Fallbeispielen aus dem Denkzeit-Training mit den Teilnehmern diskutieren.
AG 3 Prof. Dr. Manfred Gerspach —
AG zum Vortrag
Die Aktualität des szenischen Verstehens und des fördernden Dialogs in der Pädagogik, die auf Aloys Leber zurückgehen, soll dargelegt und durch den Einschluss neuerer Konzepte in ihrer Relevanz für ein verstehendes Arbeiten verdeutlicht werden.
AG 4 Joachim Heilmann
Autistische Kinder in der Schule – Verlauf einer gelungenen Integration
In der AG wird zunächst ein Überblick über die schulische Situation autistischer Kinder und Jugendlicher in der Vergangenheit und Gegenwart gegeben. Dies geschieht unter Berücksichtigung der Tatsache, dass es sich bei sogenannten autistischen Kindern keineswegs um eine homogene Gruppe handelt. Vielmehr ist die Bandbreite des Autismus-Syndroms sehr groß, was die Entwicklung individuell passender Einzelfalllösungen notwendig macht. Im Anschluss daran wird anhand eines Fallbeispiels die letztlich positiv abgeschlossene Schullaufbahn eines Jungen mit der Diagnose Asperger-Autismus zur Diskussion gestellt.
AG 5 Volker Hirmke-Wessels
Integration versus Identitätsverlust- Über das Scheitern eines 12-jährigen Schülers mit Integrationsstatus
AG 6 Prof. Dr. Dieter Katzenbach —
AG zum Vortrag
AG 7 Christoph Kleemann —
Inklusion der Kinder, die niemand haben will -Die Arbeit mit ausgegrenzten und sich ausgrenzenden Kindern und Jugendlichen in der Schule
Inklusion der Kinder, die niemand haben will -Die Arbeit mit ausgegrenzten und sich ausgrenzenden Kindern und Jugendlichen in der Schule
AG 8 Dr. Heinz Krebs
Schuld- und Schamkonflikte bei sogenannten verhaltensgestörten/dissozialen Kindern, Jugendlichen und ihren Familien – Perspektiven der institutionellen Erziehungsberatung
Anhand von Fallbeispielen soll über Wege gesprochen werden, wie der Marginalisierung von Kindern, Jugendlichen und ihren Familien entgegen gewirkt werden kann und welchen Beitrag die institutionelle Erziehungs- und Familienberatung dazu leisten kann.
AG 9 Dr. med. Hans von Lüpke —
” … und wir sind wirklich arm dran, wenn wir lediglich geistig gesund sind.” (Winnicott 1976)
Mit diesem Winnicott-Zitat soll thematisiert werden, dass ein lediglich pathologisierender Umgang mit Außenseitern die Gefahr birgt, dass die Helfer im psychosozialen Feld Handlanger gesellschaftlicher Kräfte zur Anpassung und Nivellierung werden. Wie könnte das nicht selten durch vielfache Eskalationsprozesse destruktiv gewordene kreative Potential von Außenseitern eher zur Entfaltung gebracht werden, als durch domestizierende Maßnahmen wie “musische Fächer”, “Abenteuerspielplätze” oder Wände für “legale Grafitti”? In der Arbeitsgruppe geht es weniger um die Entwicklung von konkreten Strategien, sondern um die Auseinandersetzung mit inneren Bildern, Phantasien, Erfahrungen, Hoffnungen und Ängsten. Die Klarheit über daraus entstandene Abgrenzungen oder (geheime) Identifikationen können durch die Entwicklung eigener Beweglichkeit neue wechselseitige Prozesse einleiten.
AG 10 Dodo Maass
Das Atelier Goldstein – Ein Arbeitsplatz ganz „Besonderer Art“
Die Künstler – mit dem Down Syndrom, mit autistischen Problemen, mit psychischen Auffälligkeiten und Körperbehinderungen – arbeiten tagsüber in Werkstätten für Behinderte und leben in Wohneinrichtungen für behinderte Menschen. – Sie kommen zu Wort und wir können miterleben, wie sie sich durch dieses Angebot im Atelier durch ihre originären Kunstwerke wertgeschätzt fühlen, individualisiert und herausgehoben werden. Die Eintönigkeit des Werkstattablaufs wird durch den besonderen Arbeitsplatz im Atelier durchbrochen. Hier kommt es auf andere „Be-Sonderheiten“ an. Manche Künstler brauchen professionelle Anregung und Assistenz.
Das Atelier Goldstein genießt hohe Anerkennung im öffentlichen Kunstbetrieb und die Ausstellungen in aller Welt werden hoch gelobt. Durch Integration in die Öffentlichkeit – die ausgestellten Künstler nehmen immer an den Vernissagen teil – erfahren sie sich als echte Künstler ohne Behindertenbonus. Viele Exponate werden verkauft und hängen in Museen.
Auch Eltern der Künstler, die manche der Arbeiten ihrer Kinder zerstört haben, weil sie so überbordend und nicht bedeutend erfahren worden sind, kommen zu Wort.
AG 11 Prof. Dr. Thilo Naumann —
Zum Umgang mit Ausgrenzung in der Kita —
In jeder Kita bilden sich gesellschaftliche Ausgrenzungsprozesse etwa infolge von Geschlechterverhältnissen, Interkulturalität, sozialer Ungleichheit oder Behinderung ab. Pädagogischer Anspruch sollte es sein, diese Prozesse in der Kita nicht zu reproduzieren, sondern Integration zu verwirklichen. In diesem Sinne braucht es eine kritische Auseinandersetzung mit der Dominanzkultur, die Bereitschaft zur Veränderung der institutionellen Strukturen sowie eine selbstreflexive pädagogische Haltung, damit letztlich eine empathische Beziehungsarbeit mit Kindern und Eltern gelingen kann.
AG 12 Bernadette Neuhaus/Ines Carstens —
Wer ist hier der Außenseiter? – Integration eines emotional und sozial auffälligen Jungen in die Gruppe durch Einführung eines Dritten.
AG 13 Dr. Bernd Niedergesäß
Inklusion und Integration. Die gemeinsame Betreuung von behinderten und nicht behinderten Kindern im Kinderhaus Mainkrokodile in Frankfurt a.M.
AG 14 Horst Nonnenmann/Sylvia Künstler
Grenzgänge – Von der Unmöglichkeit und den Chancen stationärer Arbeit mit borderline-strukturierten Jugendlichen und jungen Erwachsenen
AG 15 Gerhild Ohrnberger
Der Außenseiter und seine Bedeutung im Prozess der Gruppenbildung – Exemplarische gruppenanalytische Betrachtung von Kindergruppenszenen. (Gruppe ist ausgefallen)
AG 16 Dr. Inge Schubert
Ausgrenzungsphänomene in schulischen Gruppen bei „hoch“begabten Schülerinnen und Schülern
Tagungsgebühr: 75 €, Studierende 40 €, Abendessen 25 €